superverso per organo

Orgelzyklus in 12 Teilen
von Ernst Helmuth Flammer
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Ernst Helmuth Flammer

superverso per organo

Orgelzyklus in 12 Teilen (1985-1992)

I       Genesis

II      Trio

III     … et exclamavi …

IV     Symphonie

V       superverso V

VI     Toccata

VII    superversolino

VIII   Clusterstudie

IX     Farbenmusik

X      Preludio

XI     Bozzetto

XII   Apokalypse

Signal aus eisiger Ferne
Flirrend stechende Unrast der Schneenadeln.
Kathedralen aus Packeis, blauschillernde Lava,
Leeregenerator.
Im kalten Nichts das Zucken der Aurora Borealis. Wie es
Klirrt, schraubt, drängt. Rollende Verschlingungen
Spasmen,
Konvulsionen –
Ströme von Blut und Fleisch, gepeitscht, gemartert, zerrissen
In quälenden, sinnlosen Wehen.
Der blaue, eisgeborene Höllenplanet, korrodiert, verätzt,
Schillert und zerschellt.
Ein Sirren
Gleichgültiger Wüstenstürme, das
Spirale Drehen von Orkanen.
Stimmen, Schreie, Nigredo, Rubledo, eine Welt geformt aus Verwirrung und
Zehrender Eisamkeit.
Ja,
Sagt Shakti, hier
Soll mein Brautkranz gewoben werden.

Paro Christine Bolam

Einführung
Ein eindrücklicher Anfang: Cluster, auf der Orgel besonders intensive Tontrauben, bauen sich auf und wieder ab, wechseln durch verschiedene Registrierungen ihre Farbe und kontrastieren zu flirrenden Klangflächen, die aus repetierten und sich dabei ständig verändernden Bewegungen bestehen. So beginnt die erste Etüde des Zyklus superverso von Ernst Helmuth Flammer mit einem wahren Kaleidoskop an Orgelklängen.

Seit 1985 ist dieser grosse, zwölfteilige Zyklus entstanden, eines der bedeutendsten Werke zeitgenössischer Orgelmusik, das die Möglichkeiten des Instruments auf neue Weise auslotet. In der zweiten Etüde etwa verdichten sich Klanggestalten in einem unaufhaltsamen Prozess und lichten sich danach wieder auf. Die Form ist einfach, aber nicht simpel und hält das Ohr für Überraschungen offen. Die dritte Etüde arbeitet mit einem Klang, der auf der Orgel lange als nicht salonfähig galt: dem Arpeggio. Hier geht die Musik über das Prozesshafte hinaus und entwickelt sich zum Charakterbild. Diese drei ersten Studien des Zyklus schon begnügen sich also keineswegs mit technischen Problemen. Sie sind eigenständig, reich an harmonischen Variationen, an Farben, bedacht auf feinste Ausdifferenzierung, und sie zeigen gleichzeitig, wie verschiedenartig Formabläufe sein können. Und so geht es weiter, mit den Halberg-Studien, drei in Gestus und Ausdehnung sehr unterschiedlichen Stücken. Während sich die erste mit dem Titel „Symphonie“ dramatisch aufbäumt, erweckt die zweite mit ihren raschen Akkord-repetitionen über die reine Mechanik hinaus einen geradezu gespenstischen Eindruck.

Auch in den folgenden Stücken zeigt Flammer die Orgel in verschiedenen Facetten. Ein grosses Ganzes entsteht, das freilich nicht auf Geschlossenheit abzielt. Vielmehr bilden die einzelnen Stücke Wege von einem Ort zum andern. So wäre vielleicht auch der Titel zu verstehen: superverso als totale Umwendung. Diese Musik bleibt nicht stehen. Flammer zieht alle Register, im wahrsten Sinn des Worts, doch nicht effekthascherisch, sondern höchst überlegt und überlegen. Und gleichzeitig mit Auflehnung.
Spätestens da nämlich wird superverso zum Hyper-Vers. Es transzendiert das reine Klangspiel. Flammers Bekundungen nach wollte er mit diesem Werk auch gegen das Hypertrophe in der Welt, gegen Machbarkeitswahn und zunehmende Umweltzerstörung protestieren und so der Welt einen Spiegel vorhalten. Dies reflektiert tatsächlich die enorme Virtuosität des Zyklus und damit die Schwierigkeit der Realisierung und Interpretation. Christoph Maria Moosmann, der den Zyklus über Jahrzehnte hinweg erarbeitet hat, berichtet von den Krisen bei der Einstudierung, und er erzählt auch, dass Zuhörer in „den brachialen Klanggewalten, den unerbittlich von einer etablierten Ordnung ins Chaos führenden Entwicklung, einer immer wieder zu beobachten Verlangsamung des Tempos bis zum Stillstand“, aber auch in der exzessiven Verwendung tiefster Töne eine Art Höllenfahrt hörten. Liesse sich das Werk somit als ein Exorzismus, als ein Weg zur Katharsis verstehen? Als letzte Immanation eines Geistes im Körper, der ausbrechen will?

Thomas Meyer

Analyse
Aufführungen

1989    Mozarteum Salzburg – Mitschnitt ORF
1990    Internationale Feienkurse für Neue Musik Darmstadt
1991     Musiktage an der Universität Freiburg
1992     Dom zu Bremen – Festival Pro musica nova – Mitschnitt Radio Bremen
Rheinisches Musikfest Mönchengladbach – Mitschnitt WDR
Mozarteum Salzburg – Festival Aspekte Salzburg
Musikhochschule Pieta (Schweden) – Nororgelfestivalen
Tonkünstlerfest Baden-Württemberg  (6 Aufführungen)
St. Egidien Nürnberg- Semiar an der Musikhochschule Nürnberg
Ravensburg- Neue Musik in Oberschwaben
Stuttgart
Klianskiche Heilbronn
Stadtkirche Biel
2000    Basilika Vierzehheiligen- CD-Produktion
2007    Grossmünster Zürich – festival religio musica nova
2008    Kunststation St. Peter Köln
2009    Kathedrale Chur
2010    Dom zu Fulda – Bundesweite Aktionstage Kirche macht Musik

 

 

Rezensionen
Die Farbigkeit von Strukturen
Phantastische Aufführung von Ernst Helmut Flammers Orgelzyklus „superverso“ im Fuldaer Dom
Fesselnd vom ersten bis zum letzten Klang war die ungeheure strukturelle und – für den Zuhörer fast noch entscheidender – klangfarbliche Dichte, die Moosmann und seine beiden Registranten mit hoher Transparenz der Polyphonie und differenzierter Farbigkeit zur Wirkung kommen liessen. Dabei bekamen die kompositions- und orgeltechnischen Problemlösungen jedes einzelnen Satzes eine musikalisch sehr lebendige Ausfüllung.
Trotz der erheblichen Aufführungsdauer und avancierten Klanggestalt, die beim Hören von „superverso per organo“ alles an Konzentration abverlangen, verliess kaum ein Zuhörer den Dom vor dem Ende der Komposition. Faszinierend war die Deutlichkeit, mit der man das durchgehaltene Prinzip des „superverso“, der „totalen Umwendung“, in seinen einzelnen Ausprägungen nachvollziehen konnte. Das ständige Werden und Vergehen, laut Flammer Grundmerkmale des Seins, liess sich auch an seinem Orgelzyklus beobachten. Klangliche Flächen wurden zu Linien, Akkorde zu melodischen Figuren, dichte Gewebe zu einzelnen Punkten und umgekehrt. Cluster bewegten sich, in permanent wechselnden Registrierungen, über den gesamten Umfang der Domorgel, teils gegenläufig, teils in gewaltigen Flächen („Clusterstudie“).
Flammer schöpft farblich und dynamisch keinesfalls immer aus dem Vollen. Der Zyklus wirkt nicht „überladen“. Im siebenten Stück, „superverso für eine Kleinorgel“, erwachsen aus einer schlichten Melodie eine zweite und eine dritte ruhige Stimme. Das neunte kommt mit nur vier Klangfarben und wenigen Tonhöhen aus. In diesem Satz wird dem Hörer nach einer von Moosmann mit phantastischer Präzision dargestellten hohen rhythmischen Komplexität immer mehr vorenthalten, ein eindrucksvolles Beispiel einer Dekomposition. Erfüllung und Nichterfüllung von Erwartungshaltungen an Toccatenprinzipien sind Thema des zehnten Stückes. Eine konzentrierte Zusammenfassung des Ideengehaltes aus dem Gesamtzyklus stellt die abschliessende „Symphonie“ im zwölften Abschnitt dar. Wunderschön gelangen Moosmann die die auf mehreren Ebenen komponierten Verdichtungen, angereichert durch variierte Selbstzitate der vorangegangenen Stücke.
Nach dem Verklingen dieses letzten Satzes herrschte minutenlange Stille im Dom, ehe der Applaus einsetzte. Flammers Komposition hatte ungeheure Spannung aufgebaut. Technisch auf dem „Stand des Materials“ (Adorno) und durchgestaltet auf allen Ebenen, rebelliert sie gegen die „kunstgewerbliche geistliche Klischeemusik“ (Flammer) in der Kirche.
Domorganist Hans-Jürgen Kaiser hatte in seiner Begrüssung versprochen, dass Neue Musik auch künftig ihren Platz im Fuldaer Dom erhalten werde. Mit „superverso“ war ein eindrucksvoller Einstieg gelungen.
Fuldaer Zeitung

 

Ein Schwelgen in Klangfarben
Wie weiland Kaiser Josef zu Mozart nach der „Don Giovanni“-Aufführung seufzend bemerkte: „Gewaltig viel Noten“, so könnte es einem beim Anblick der Partitur zu „superverso per organo“ gehen. Das soll einer spielen können? Diese Gebirge von Noten überblicken, in den Griff bekommen?
Nun, Christoph Maria Moosmann, 1960 in Riedlingen geboren, konnte es, wobei ihm zwei Damen beim Registrieren zur Seite standen. Gefordert waren äusserste, sensibelste Virtuosität. Der Blick in das irgendwie abstrakte Schaffen beim Komponieren des Förtig-Schülers Flammer war das eine, die sinnliche Warhnehmung siner Musik das andere Erlebnis. Sie setzt im Hörer ständig neue Bilder frei, aktiviert ihn so, dass die nahezu zwei pausenlosen Stunden im Nu verfliegen. Immer wieder ein wahres Schwelgen in Klangfarben, die impressionistisch flimmern und irisierend schimmern, dann wieder skurrile, groteske, stampfende, ächzende, dröhnende Töne, die sich sachte wandeln zu zartesten, lichten Gebilden. Die Nähe zur Synästhetik der Romantiker ist ein-„leuchtend“; beim Hören solcher Klänge zugleich Farben und Figuren sehen, wer könnte sich solchem Zauber entziehen?
Pforzheimer Kurier

 

Totale Umwendung
Dem eindeutigen Komponieren begegnete eine ebenbürtige Interpretation. Christoph Maria Moosmann erwies sich als ein nicht nur brillant musizierender, sondern vor allem als ein bestechend klar artikulierender Organist, dem auch die fetzigen Passagen keine Mühen bereiteten. Moosmanns Spiel atmete in jedem Moment. Hier musizierte ein souveräner Organist, der von der zum Teil von ihm bestellten Musik überzeugt war.
Hannoversche Allgemeine

 

 

Ernst Helmut Flammer
Ernst Helmuth Flammer, geboren 1949 in Heilbronn, wandte sich erst nach einem Mathematikstudium der Musik zu. Einem Kompositionsstudium bei Klaus Huber und Brian Ferneyhough an der Musikhochschule Freiburg folgten Studien der Kunstgeschichte, Philosophie und Musikwissenschaft (Promotion 1980 bei Hans Heinrich Eggebrecht über Hans Werner Henze und Luigi Nono).
Neben einer umfangreichen Lehrtätigkeit (Mozarteum Salzburg, Universität Freiburg, University of Newcastle, Darmstädter Ferienkurse, St. Petersburg, Odessa, Paris), flankiert von regelmässigen Publikationen zu Themen der neuen Musik und ästhetischen Fragestellungen war Flammer künstlerischer Leiter des Festivals Ensemblia der Stadt Mönchengladbach, betreute das von ihm mit aufgebaute ensemble recherche und gründete 1993 das Festival “… antasten …”, eine Biennale für Neue Klaviermusik. Seit 2003 ist Ernst Helmuth Flammer Lehrer für Musikwissenschaft und Komposition an der Musikhochschule Dresden.
Flammers kompositorisches Schaffen umfasst neben Kammermusik in verschiedenen Besetzungen, einem umfangreichen Orgeloeuvre, mehreren programmatisch betitelten Werken für grosses Orchester („Durch die Erde geht ein Riss des Vergessens”, „Dem Rad in die Speichen fallen”) auch ein Oratorium für drei Chöre, drei Orchester und Live-Elektronik (Der Turmbau zu Babel) und ein Glasperlenspiel für Glasharfe. Zahlreiche Kompositionsaufträge, Preise und Stipendien, sowie Rundfunkproduktionen und CD-Einspielungen runden seine Arbeit ab.